NRW Ticketing Bergkamen


Nicht all zu lang nachdem ich meine glorreiche Ankunft in Bergkamen Zentrum gefeiert habe, warte ich nun darauf, dass ein Bus mich in einen der Außenbezirke der Stadt bringt. Unter dem freistehenden Dach des Busbahnhofs ist ein Kiosk in einen Betonkubus versenkt. Es gibt nur eine schmale Durchreiche, hinter der der Verkäufer sitzt. Ich gehe zu ihm und möchte einen „Hellweger Anzeiger“ kaufen – das ist das lokale Blatt von Bergkamen. „Oh entschuldige vielmals, da ist keiner mehr da“, sagt der türkische Mann, dessen viele Falten von einer schwarzen Strickkappe beschattet werden. „Ich kann dir gerne eine andere Zeitung anbieten. Die Bild ist noch da.“ „Hmm naja“, sage ich, „ich hätte schon lieber etwas aus der Gegend. Was ist denn da hinten? Ist das nicht der Hellweg Anzeiger?“ „Ja ja, das ist wohl einer. Aber von vorgestern, mein Freund.“ „Was solls“, sage ich in dem Gefühl, dass sich die Nachrichten hier nicht im rasanten Tempo überschlagen, „Bekomm ich den denn günstiger?“ „Nein mein Freund, wenn ich den zurückgebe, bekomm

ich den vollen Preis wieder. Wenn kein Preis draufständ würd ichs machen, wirklich, aber so keine Chance.“ „Ja gut, okay.“, sage ich und zähle einen Euro zehn ab. „Aber du brauchst den nicht kaufen!“, unterbricht mich der Mann, „wirklich kein Zwang“. „Klar, weiß ich.“ antworte ich. Anscheinend habe ich das Interesse meines Gegenüber gewonnen, bei dem wohl selten eine Zeitung von vorgestern gekauft wird. „Sag mal, wie heißt du?“, fragt er mich als nächstes. „Max!“ „Ah, hallo Max“, er streckt mir die Hand entgegen, „Ich bin Ali, aber du kannst mich Onkel Ali nennen, machen hier alle so.“ „Hallo Onkel Ali, nett dich kennenzulernen“, sage ich. „Sag mal Max, wann kommt dein Bus?“ „Erst um kurz nach halb.“ „Hey, das sind mehr als zwanzig Minuten – willst du nicht rein kommen, wir unterhalten uns ein bisschen.“ „Öhm, klar, warum nicht.“ Ich laufe zu der Seite, an der ich die Tür des Betonwürfels vermute, vertue mich aber. „Hey Max, mein Freund, wo bleibst du. Hierherum!“ Onkel Ali hält mir die Tür zu seinem Kiosk auf. Der kleine Raum ist vollgestopft mit Regalen voller Süßigkeiten, Spirituosen, Zeitschriften und Zigarettenschachteln. Es gibt zwei Stühle: Einen alten Holzstuhl, der sehr hart aussieht und einen gepolsterten Schreibtischstuhl. Ali bietet mir den besseren an. „Setz dich doch, hier bitte.“ Und ich setzte mich.

Für die nächsten zwanzig Minuten bin ich ganz nah dran an Bergkamen, so kommt es mir vor. Ich unterhalte mich weiter mit meinem neuen Onkel. Ich erfahre, dass er mit seiner Familie dem Vater vor fast vierzig Jahren hierher nachgereist ist. Ein paar Jahre ist er zur Schule gegangen, dann hat er geschmissen und beim Bergbau angefangen. Haben damals alle gemacht. Heute, sagt er, könne er von der Rente gut leben, er habe im Monat mehr als ein Zeitarbeiter, soviel stehe fest. „Okay“, sage ich. „Jaja, und ich war noch nicht einmal lange dabei, gibt viele hier, die noch viel mehr bekommen als ich. Früher hatte hier jeder Arbeiter ein Auto und heute niemand mehr.“ „Okay“, sage ich wieder, „Wie ist das mit deinem Kiosk?“ „Ah, mein Kiosk? Nein nein… Der ist von meinem Bruder. Ich helfe hier nur ein bisschen aus. Verstehst du? Machen alle in der Familie. Geld krieg ich dafür nicht. Könnte gar keiner bezahlen. Überleg mal, wir verkaufen hier manchmal ein paar Stunden nicht mehr als eine Schachtel Zigaretten.“ „Okay“, sage ich zum dritten Mal und genau in diesem Moment kommen gleich mehrere Teenager auf einmal zu dem kleinen Fenster gelaufen und stellen sich an. „Du bringst mir Glück“, sagt Ali. Er begrüßt jeden einzelnen Kunden mit Namen und Handschlag. Nach dem zweiten flüstert er mir leise zu: „Arschloch! Aber du musst zu denen immer nett sein, anders geht’s nicht.“ Der dritte Kunde möchte eine Tüte vierzehn, also die Gummidrops in dem Kasten mit der vierzehn. Als er weg ist, weist Ali auf das stabile Schloss an seiner Türe: „Siehst du, hier laufen seltsame Typen rum, haben schon fünfmal bei uns eingebrochen, immer wieder.“ „Okay, verstehe.“