NRW Ticketing Bergkamen


Als ich und meine Vorstellungen von der Stadt Bergkamen nach Bergkamen kamen … hatte es sich mit ihnen bald erledigt. Das fing bei dem Wörtchen Stadt an und hörte mit der Floskel ‘dort ankommen’ wieder auf…


Ich starte früh. Schon um halb acht sitze ich im Regionalexpress Richtung Dortmund und warte, dass er sich von der Stelle rührt. Das kenne ich von Aachen – viele Züge enden hier und genauso viele fahren hier erst los. Sie stehen morgens eine ganze Weile auf dem Gleis, bevor sie sich einen Ruck geben, bevor irgendein Reisender, der nicht damit gerechnet hat, sich an einem Fremden festhalten muss, um nicht umzufallen, bevor die letzte Türe knallt, in die der Schaffner mit seiner Kelle verschwindet und man sich für einen Moment lang fragt, ob sich die Lok auf dem Nebengleis nur rückwärts bewegt oder man selber sich endlich vorwärts. Ich weiß genau wie alles abläuft, bin in meinem Leben mehr Zug als Auto gefahren. Und deshalb koste ich die Sekunden des Stillstands voll aus: Den Schatten der großen Bahnhofshalle, unter deren Ostbogen sich erste Sonnenstrahlen durchducken. Die unverständlichen Lautsprecherdurchsagen, die mir mit ihrem Röhren den Bauch massieren. Es sind die letzten Sekunden, die man noch zu Hause ist, in gewohnter Umgebung. Und mit einem Pfiff setzt sich die Welt in Bewegung.


Die Sitzgruppen, Klappmülleimer, Gepäckablagen und Kopfstützen der zweiten Klasse werden von hellem Tageslicht beleuchtet. Das bringt ihre vielen Macken, ihre undefinierbaren Flecken und Gerüche zum Vorschein. Aber das gute Wetter hebt die Laune der Fahrgäste so sehr, dass sie nicht darauf achten. Es herrscht ein abteilatmosphärisches Patt. Ich richte mich an meinem Fensterplatz ein, mustere den Mann, der mir schräg gegenüber sitzt. Er ist ziemlich groß, noch nicht sehr alt, aber schon mit einer kahlen Stelle mitten auf dem Kopf. Ich muss an eine Geschichte denken, die mir mein Onkel erzählt hat. Es ging dabei um den Schopf seines Opas, den er selbst nicht kennen gelernt hat – den Opa, nicht den Schopf. Laut seiner Oma soll dieser bis ins höchste Alter dichtestes Haupthaar genossen haben und er, mein Onkel, brauche sich auf Grund der guten Gene keine Sorgen zu machen bald kahlköpfig dazustehen. Diese Gewissheit behielt mein Onkel für viele Jahre und konnte mit dem Gefühl vor sich hinleben zumindest ein Problem weniger als andere zu haben. Dann aber tauchte ein altes Foto auf. Darauf zu sehen war eine winzig kleine Oma mit ihrem riesengroßen Mann – und weil das Foto leicht von oben herab fotografiert war, konnte man sehen, was der glücklichen Frau ihren gesamten Lebensabend entgangen war… Der Mann gegenüber setzt seine Brille auf. Aus einer schlaffen grünen Reisetasche, die nicht viel mehr enthalten kann als eine Zahnbürste und etwas Unterwäsche, zieht er ein Buch: „Richtig reisen: Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay“ steht darauf. Warum er wohl dahin will?


Jetzt, nachdem ich wieder zu Hause bin, habe ich einmal nachgeschlagen: In Chile sind die Frauen im Durchschnitt immerhin 10 cm kleiner als in Deutschland. Zugegeben, in Indonesien wäre er noch weitaus besser dran, aber vielleicht bekommt ihm dort das Klima nicht. Auf jeden Fall fernhalten sollte er sich aber von den Dinarischen Alpen, dort leben die durchschnittlich größten Menschen der Welt – wer hätte es gedacht? Draußen zieht die Landschaft an mir vorbei. Einige Osterfeuer sind schon aufgebaut. Der Zug hält an, eine Gruppe Rentner steigt zu, er fährt weiter, hält dann wieder an. Wahrscheinlich ein Stopp, um einen Kollegen vorbeizulassen, der etwas schneller unterwegs ist – einer mit dem man als NRWTicketer gar nicht fahren darf. Eine kurze Durchsage der Lokführerin ertönt. „Moment…“ lautet sie schlicht. Dann ein paar Minuten später: „Sehr geehrte Fahrgäste, bitte beachten sie folgende Informationen – die ham uns den Strom abgestellt.“ Das bringt einen der Rentner sichtlich in Rage. Der graue Herr sieht mit seinen mit Pomade zurückgestrichenen Strähnen und der dicken Brille aus wie ein älterer Karl Theodor von und zu Guttenberg. „Hört euch das an!“, schimpft er, „Kann keine ernsthafte Durchsage machen die Frau – die werden heute einfach nicht mehr richtig ausgebildet. Ich sage es euch.“ Seine Zuhörer quittieren diesen Vorwurf mit gefälligem Nicken. „Ja, ja, ja, ja“, machen sie, wie Tischtennisbälle, die mit immer kleineren Sprüngen auf den Boden aufprallen und schließlich liegen bleiben. „Als ich hier noch im Weichenstellerhäuschen war, waren das noch andere Zeiten“, stößt der Alte das klackende Ja-Gemurmel noch einmal an, aber da rollt der Zug schon wieder. Der Mann mit dem Reiseführer steigt in Mönchengladbach aus, wo die Frauen im Schnitt einen Meter siebenundsechzig messen und der kleine Flughafen nur Rundflüge über dem Stadtgebiet anbietet. Vielleicht hat ihn im letzten Moment der Mut verlassen noch bis Düsseldorf weiter zu fahren und sich von dort in die kleine Ferne abzusetzen. Vielleicht hat er aber auch durch die Muse des Zugfahrens neuen Mut gefasst, beschlossen, dass er von nun an offensiv mit seinem schmalen Haarkranz umgehen wird. Vielleicht steigt er ja gerade aus, um sich vom erstbesten Tätowierer einen Slogan auf seine Pläte schreiben zu lassen. „Wenn du das lesen kannst – solltest du überlegen Basketball zu spielen“ oder etwas in der Art. Vielleicht kauft er sich aber auch einfach einen Hut und träumt weiter von Chile.